SCHLOSS JEGENSTORF – Das Barocke Kulturgut im Kanton Bern feiert den 300. Geburtstag und zählt zu den Kulturgütern nationaler Bedeutung. Museumsleiterin Murielle Schlup nimmt uns mit in die Jubiläumsausstellung auf eine spannende Reise in die Vergangenheit.
Schloss Jegenstorf feiert dieses Jahr unter dem Motto «Wahrhaft fantastisch! 300 Jahre Barockschloss» ein grosses Jubiläum. Wie sind Sie in die diesjährige Saison gestartet?
Murielle Schlup: Mit Zuversicht, Elan und Vorfreude auf die bevorstehende Jubiläumssaison. Diese konnten wir dann auch termingerecht und inhaltlich wie geplant starten. Die Realisierung der – pandemiebedingt von 2020 auf dieses Jahr verschobenen – Jubiläumsausstellung gelang erfolgreich und findet grossen Anklang beim Publikum. Bisher konnten auch alle Veranstaltungen durchgeführt werden.
Welche Bedeutung hat das Berner Landschloss kulturhistorisch für den Kanton Bern sowie die Schweiz?
Murielle Schlup: Schloss Jegenstorf war während Jahrhunderten mehr als nur ein Landschloss. In erster Linie war es ein Herrschaftssitz, ein politisches, rechtliches und soziales Machtzentrum inmitten eines umfangreichen, zum Schloss gehörigen Territoriums, das es zu verwalten galt. Wechselnde einflussreiche und wohlhabende Berner Geschlechter und Familien hatten die Herrschaft inne. Im ausgehenden Zweiten Weltkrieg diente das Schloss General Guisan als Kommandoposten und ist daher bis heute auch ein wichtiges «militärisches Denkmal» für die Schweiz. Heute zählt das Schloss im Herzen des Kantons und nahe der Schweizer Hauptstadt zu den Kulturgütern nationaler Bedeutung. Das barocke Baukunstwerk ist von einer idyllischen Parkoase umgeben, die für Jegenstorf und die umliegenden Gemeinden ein beliebtes Naherholungsgebiet ist. Das gut besuchte und sich an ein breites Zielpublikum richtende Schlossmuseum wurde 2020 in den Kreis der regional bedeutenden Kulturinstitutionen im Verwaltungskreis Bern-Mittelland aufgenommen. Seit demselben Jahr dient es auch als Zivilstandlokal, das von Brautpaaren rege gebucht wird.
Was ist charakteristisch für das Barockschloss?
Murielle Schlup: Beim grossen barocken Um- und Erweiterungsbau von Schloss Jegenstorf im Jahr 1720 wurde viel Wert auf die repräsentative, imposante Aussenwirkung gelegt. Das neue Schloss inmitten einer französisch inspirierten Gartenanlage sollte Macht und Pracht des Bauherrn und Besitzers, Albrecht Friedrich von Erlach (1696 – 1788), ausstrahlen. Charakteristisch ist der quadratische, mit vier Ecktürmen begrenzte Grundriss, aus dem vier gleich grosse, aber individuell gestaltete Fassaden hervorgehen. Diese korrespondieren jeweils harmonisch mit den ihnen zugewandten Gartenparterres, die ebenfalls ganz unterschiedlich voneinander ausgeführt worden sind. Ein Schloss mit vier Gesichtern also. Durchgehend zu erkennen ist das für die Barockbaukunst typische Symmetriebedürfnis, wobei sich wiederum genau hier auch ein markanter Bruch bemerkbar macht: Der alles überragenden Bergfried aus mittelalterlicher Zeit, der als weit in die Vergangenheit zurückreichendes Machtsymbol beibehalten und geschickt in den barocken Neubau integriert worden ist, steht nicht von allen Seiten her betrachtet im Zentrum der Anlage. Während die Symmetrie mit Blick auf die Ost- und Westfassade stimmt, wird dieser auf der Nord- und Südseite ein Schnippchen geschlagen.
Wie wird das Jubiläum gefeiert, welche speziellen Erlebnisse bieten Sie den Besucherinnen und Besuchern?
Murielle Schlup: Es wird zusammen mit dem Publikum, der Öffentlichkeit gefeiert. Im Zentrum der Saison voller Erlebnissen und Attraktionen für Gross und Klein steht das dreisprachig konzipierte Jubiläumsspektakel «Wahrhaft fantastisch! 300 Jahre Barockschloss», das als Ausstellungsparcours im ganzen Schloss angelegt ist. Hinzu kommen zahlreiche kulturelle Veranstaltungen sowie aufs Jubiläum hin konzipierte Vermittlungsangebote für private Gruppen, Familien und Schulklassen. Ergänzende Geschichten und Überraschungen bietet die Kabinettausstellung «300 Jahre – 30 Objekte. Schätze und Trouvaillen der Sammlung».
Was zeigt die Sonder- und Jubiläumsausstellung?
Murielle Schlup: Sie ist eine unterhaltsame Reise in die Vergangenheit und haucht dem Schloss und seiner Geschichte «neues altes» Leben» ein. Die Schau thematisiert und inszeniert – schwankend zwischen Wahrheit und Fantasie – die Zeit des barocken Um- und Erweiterungsbaus der Schlossanlage ab 1720 unter dem illustren Patrizier und späteren Berner Schultheissen Albrecht Friedrich von Erlach. Auch seine Familie, vor allem sein eigenwilliger, mächtiger und reicher Vater Hieronymus von Erlach, spielt eine tragende Rolle – im wahrsten Sinne des Wortes: Die audiovisuelle Ausstellung auf drei Geschossen ist in 13 dialogische Szenen gegliedert, die mit lebensgrossen, dreidimensionalen Papierfigurinen der international tätigen belgischen Künstlerin und Designerin Isabelle de Borchgraave animiert sind. Alleine diese sensationellen Kunstwerke sind einen Ausstellungsbesuch wert.
Wieso lohnt es sich auch die Dauerausstellung zu besuchen?
Murielle Schlup: Schloss Jegenstorf beherbergt bewusst keine statische Dauerausstellung im eigentlichen Sinne, sondern es bietet ein visuelles, «begehbares» Schlosserlebnis, das die Besuchenden in längst vergangene Zeiten eintauchen lässt. Das Schlossgebäude wurde im Innern zwischen 1912 und 1916 unter dem letzten privaten Schlossbesitzer Arthur von Stürler im Stil des 18. Jahrhunderts – und damit passend zum barocken Schlossgebäude – umfassend restauriert. Das Interieur ist mit Edelmobiliar, Gemälden und Kunsthandwerk aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert eingerichtet und vermittelt einen Eindruck, wie es in der Vergangenheit bewohnt und «belebt» worden ist. Die Besuchenden bewegen sich von Raum zu Raum mit dem Gefühl, dass die Herrin oder der Diener in jedem Moment auftauchen könnte. Beeindruckend ist die umfangreichste Ausstellung an prunkvollen Schweizer Kachelöfen aus den 18. Jahrhundert und das Edelmobiliar und Kunsthandwerk der Berner Ebenistenwerkstätten Funk und Hopfengärtner sowie die grösste Sammlung an bernischen Porträts.
Ein besonderes Bijou ist der Park. Was bietet er den Besuchern?
Murielle Schlup: In erster Linie viel Raum zur Erholung sowie zum Flanieren, Staunen und Verweilen. Während des Spaziergangs rund um das Schloss herum gelangt man etwa vorbei an den ältesten und grössen Platanen im Kanton Bern, drei lauschigen Springbrunnen, einer Orangerie, einem Pavillon, einem Karpfenteich, einer Apfelbaumplantage und einem ehemaligen Waschhaus, das heute das Schlosscafé mit dem besten Kuchensortiment weit und breit beherbergt. Der Park bietet aber auch eine einmalige Kulisse für private und öffentliche Veranstaltungen wie Konzerte, Märkte, Pétanqueturniere, Hochzeiten, das Freilichttheater und das Openair-Kino. Zudem erfreut er die Besuchenden mit seinen exklusiven Kulinarikerzeugnissen wie Obstbrände und Apfelschaumwein.
Wie viele Besucherinnen und Besucher haben Sie unter normalen Umständen und was erwarten Sie in dieser Saison?
Murielle Schlup: In Jahren mit Sonderausstellung – alle zwei Jahre findet eine statt – und daher mehr Aktivitäten, Programm und Besucherfrequenz sind es durchschnittlich rund 80’0000 Besuchende im ganzjährig kostenlos zugänglichen Schlosspark und rund 8’000 im eintrittspflichtigen Schlossmuseum. Es ist von Mitte Mai bis Mitte Oktober nachmittags geöffnet. In Jahren ohne Sonderausstellung reduziert sich diese Zahl im Museum um bis zu einem Drittel. Für 2021 sieht es derzeit sehr gut aus. Wir hoffen, dass wir unseren bisherigen Rekord von 10’000 Besuchenden knacken werden. Einen Strich durch die Rechnung könnten uns einzig die pandemiebedingt deutlich geringere Dichte an gebuchten Führungen für private Gruppen und Schulklassen machen.
Haben Sie besondere Pläne für die nächsten Jahre?
Murielle Schlup: Der Fundus an Ideen geht nie aus, ja reichert sich stets neu an. Aber wir werden nach diesen äusserst intensiven und aufwendigeren Jahren sicher einen Gang runterschalten und unseren Blick sowie unseren Aktionsradius temporär wieder stärker gegen innen richten. Das bedeutet, dass wir uns wieder vermehrt den ebenfalls wichtigen und spannenden, aber weniger öffentlichkeitswirksamen Hintergrund- und Grundlagearbeiten widmen werden. So beherbergt Schloss Jegenstorf beispielsweise eine bedeutende, umfangreiche Sammlung, die gehegt und gepflegt sein soll. Sie ist das Herzstück des Schlossmuseums und ermöglicht immer wieder neue Inszenierungen dessen «Innenlebens» und dessen Geschichte.
Interview: Corinne Remund